Auszug aus Dr. Barbara Regina Renftle, in: GETÜRMT. Turmmotive in der Gegenwartskunst, Biberach 2021
Turmmotive in der Gegenwartskunst
Baum – Mensch – Turm – Gott
Wie der zum Licht wachsende Baum ist auch der Turm ein Synonym für den aufrecht stehenden Menschen, für dessen Größe, Erhabenheit und Geisteswürde, und durch die abgeschlossene Form für Identität und Individualität des Menschen. Türme wirken in ihrem jeweiligen Umfeld als für sich stehende Individuen. Daher erhalten sie auch oft Namen und sind im heimatlichen Bezug identitätsstiftend. Sie heischen nach Aufmerksamkeit und wollen im Mittelpunkt stehen, architektonische Persönlichkeiten, die sich aus der Masse des Häusermeeres selbstbewusst abheben. „Es sind die Türme, denen unsere Städte und Dörfer ihre prägnanten Umrisse, ihr scharfes ‚Profil‘ verdanken. Die Türme sind es an erster Stelle, die ihnen so oft eine bildhaft-persönliche Physiognomie verleihen.“[1]
Der Turm als Gleichnis auf den Menschen kann sich auch nur auf einzelne Körperteile beziehen. So preist der Dichter im Hohelied, Kap. 7, Vers 5 die Schönheit der Geliebten, indem er den zarten Frauenhals mit dem waffenstarrenden Turm Davids vergleicht oder an anderer Stelle schreibt: „Dein Hals ist ein Turm aus Elfenbein.“[2]
Als vertikale, erektile Achse macht der Turm das menschliche Streben nach Transzendenz, seine geistige Ausrichtung nach oben, zum Licht und zu Gott sichtbar – sowie unsere Sehnsucht nach Wachstum. Allerdings kann das Sicherheben von der Erde hin zu Höherem auch in eine Erdentfremdung ausarten, wenn der Turm in bloßem Geltungsdrang und Größenwahnsinn maßlos wird. Solange Türme der Meditation oder dem Erkenntnisstreben dienten, quasi Ersatzhügel oder -bäume waren, überschritten sie nicht wesentlich das menschliche Maß. „Die späteren Türme, von dem zu Babel bis zu den Twin Towers hatten wohl eher phallische Bedeutungen, und ihr Fall wird dementsprechend als Kastration erlebt.“[3]
„Im Turmbau symbolisiert sich menschliche Ambition und Vermessenheit – und das seit biblischen Zeiten. Die Parabel vom Turmbau zu Babel im elften Kapitel der Genesis ist hier prototypisch. (…) Der Turm als Modell eines über sich und die Natur Hinausstrebens zeugt von dem Wunsch, menschliche Ambition mit über-menschlichen Sphären in Berührung zu bringen; damit wird der Turm zur Metapher für Transzendenz schlechthin. Mit der Turmspitze den Himmel und damit das Göttliche berühren, (…) in solchen Absichten spricht sich der Versuch des Menschen aus, seinen eigenen Verständnishorizont buchstäblich auf die Spitze zu treiben.“[4]
Das organische Wachstumsstreben des Baumes lässt der Turmbau oftmals hinter sich, durchbricht somit die Grenzen des Natürlichen und trotzt den Gesetzen der Schwerkraft. Demonstrativ strebt der Mensch im Turm „außer sich“ und tendiert zur Gesetzlosigkeit.
Demgegenüber erscheint in der Bibel das Sprachbild von Gott als dem starken Turm, zu dem man sich vor dem Bösen flüchten kann: „Der Name des Herrn ist ein starker Turm; der Gerechte läuft dahin und ist in Sicherheit“ (Spr. 18,10). Wer sich zu Gott bekennt, der wird von IHM beschützt wie von einem festen Turm. „Du bist meine Zuflucht gewesen, ein starker Turm vor dem Feinde“ (Ps. 61,3).
Schutzherrin der Türme
Schutzpatronin der Türme ist die Heilige Barbara, die zu den Vierzehn Nothelfern zählt. Der Legende nach hatte ihr Vater, Dioskouros aus Izmit bei Istanbul, sie um 300 n. Chr. in einen Turm gesperrt, um sie von unliebsamen Freiern und der Bekehrung zum Christentum fernzuhalten. Barbara bekehrte sich dennoch zur Christin und verweigerte sich einer Zwangsheirat, woraufhin der Vater sie dem Gericht auslieferte, das sie folterte und zum Tode verurteilte. Dioskouros soll sie eigenhändig enthauptet haben und wurde bei der Hinrichtung vom Blitz getroffen, so die Legende.
In der minutiösen Zeichnung Die Heilige Barbara des niederländischen Malers Jan van Eyck gibt es zwei Hauptdarsteller: Barbara und ihren Turm, der in diesem Fall ein unvollendeter gotischer Turm ist (Abb. 2). In sich und in die Heilige Schrift versunken, scheint die Hl. Barbara auf dem üppigen Postament ihres im Knitterfaltenstil ausufernden Gewandes zu schweben. Ihr von Reinheit umstrahltes Antlitz geht direkt in den Turm über, der sie wie eine aufstrebende Krone überhöht. Die vertikale Bewegung vermittelt Erhabenheit – „es ist wie ein Gebet. Die Heilige gehört zum Turm und dieser zu ihr. (…) Der Turm ist für Jan van Eyck das Sinnbild der nie vollendeten, ewig dauernden schöpferischen Arbeit der Menschheit. Aber er sieht darin auch das Glied einer heiligen Kette zwischen Himmel und Erde, die starke Burg menschlichen Glaubens, das Geschenk der Menschheit an ihren Gott. Der Turm ist also Symbol des ewigen Strebens nach dem höchsten Ziel, nach einem Ziel, dessen sinnvoller Plan durch höhere Einsicht entworfen und durch göttlichen Willen geleitet wird.“[5] Der gotische Turm scheint als Zeichen ihrer Spiritualität aus ihr herauszuwachsen, er ist ein Produkt ihrer Tugenden. Jan van Eyck ist eine Umkehrung gelungen vom Gefängnissymbol der Legende zu einer Turmvision tiefsten Glaubens. Der Turm ist hier mehr als nur Attribut. Er ist formgewordenes Zeichen der Anbetung und Frömmigkeit der Heiligen Barbara.
Türme – Höhensehnsucht des Geistes
Zwar dienen Türme oftmals einem bestimmten Zweck und haben eine konkrete Nutzanwendung im praktischen Leben. Unter der praktischen Oberfläche aber liegt jedem Turmbau ein unbewusster Drang zugrunde, den man als „Höhentrieb“ des menschlichen Geistes bezeichnen kann. Aus diesem Grund stehen Türme oft als autonome, selbständige Bauschöpfungen vor uns. Ihre nach oben aufstrebende Energie scheint Selbstzweck und die eigentliche, treibende Kraft für den Turmbau zu sein. Der Turm negiert das natürliche Gleichgewicht zwischen horizontalen und vertikalen Kräften und strebt – scheinbar gegen jede Schwerkraft – mit Nonchalance und in einer einseitig-konsequenten Bewegung nach oben, weg von der Erde. So ist der Turm elementarer Ausdruck des geistigen Strebens nach dem Unbegrenzten: „Und dieser Höhentrieb ist ein stark geistiges Element, worin der unbewusste, ewige Kampf des Geistes gegen den Stoff zum Ausdruck kommt.“[6] Die Kehrseite des natürlichen Höhentriebs des Geistes ist die Sensation des Höhenrausches, das Exzessive der Übertreibung und Überspannung.
Die spektakulären Architekturen von Babylon und Alexandria, von Straßburg, Paris, New York, Dubai und Shanghai verdeutlichen diesen exzentrischen Charakter des Turmes, ein kulturpsychologisches Phänomen, das „von Anbeginn an, seit babylonischen Zeiten, den Status einer Ikone menschlichen Strebens beansprucht hat. (…) Der Turm steht wie sonst nur die Brücke für den Triumph menschlicher Konstruktion, aber auch für die Hybris ungebremsten Wollens.“[7]
Die feminine Welt der Stoffe fasziniert auch Stephan Hasslinger, der aus den ornamentalen, visuellen Reizen banaler Alltagsgegenstände überlebensgroße Keramiktürme und -objekte entwirft. Teesiebe, Tücher, Schuhe, Schmuck, Taschen, Korsagen, Büstenhalter, Spitzenstoffe, Gehäkeltes und Gestricktes dienen ihm als Inspiration für seine ungewöhnlichen Plastiken, die sich jeder herkömmlichen Zuordnung verwehren. Häkelmuster und Maschen, Garne und Wollfäden aus Keramik wabern und wellen sich über die turmartigen Gebilde und erzeugen Trombe-l’oeuil-Effekte von großer Sinnlichkeit. Die strengen Schäfte der Türme werden durch den lockeren Fall der Maschen, deren Wülste und Schlingen konterkariert. „Kunst passiert dann, wenn klare Zuordnung unterlaufen wird“, sagt Stefan Hasslinger und negiert die Konventionen der Bildhauerei gleich mehrfach.
Zwar ist es der Kunst heute erlaubt, auf Materialien zuzugreifen, die vordem als „kunsthandwerklich“ verpönt waren. Dementsprechend ist auch das Arbeiten mit Farbglasuren, Ton und Keramik in der freien Kunst seit den 1960er Jahren fest etabliert. Aber derart riesige Keramikobjekte zu fertigen und gleichzeitig mit ihren Oberflächen eine gänzlich andere Materialität vorzutäuschen, ist doch ein Novum, das Hasslingers Position einzigartig macht. Hasslinger verbindet seinen Werkstoff Keramik mit der konträren Stofflichkeit des Textilen so irritierend, dass die Ernsthaftigkeit plastischer Erkundung und die Gefahr des dekorativen Kitsches ironisch in der Schwebe bleiben. Die Wirkungen seiner farbig glänzenden Oberflächen-Gewebe wechseln zwischen befremdlich und vertraut, erotisch anzüglich und ornamental-abstrakt. Das Artifizielle, Stilisierte und Inszenierte dieser scheinbar weichen „Maschentürme“ stimuliert im Betrachter lustvolle Gefühle ebenso wie Aversion. Hasslinger lebt eine wuchernde Dekorationslust in barocker Manier ungebremst aus: Indem sie gegen den „guten Geschmack“ ganz bewusst verstoßen, provozieren seine Keramikobjekte bei jedem Blick. Der Werkstoff Ton vermittelt schon beim Anrühren, Rollen, Kneten, Würste-Formen und Aufrichten eine starke Sinnlichkeit – ein Arbeitsprozess, für den der Künstler nichts als seine Hände und den Tonschlicker benötigt.
Seit Ende der 1990er Jahre fertigt Hasslinger über zwei Meter hohe Türme aus übereinandergesetzten Keramik-Modulen und mauert mit Wülsten aus Ton Raumhüllen, die er den „Fleischmantel“ nennt. Seine oft schiefen Turmsäulen widersprechen der architektonischen Norm und geometrischen Klarheit, da ihre Außenhaut durch ein Innengerüst aus Ton von der tragenden Funktion entbunden ist. So können die Plastiken immer größer und gleichzeitig in der optischen Wirkung immer weicher und nachgiebiger werden, weil die dekorativen Keramikgeflechte als eine Art modisches Kleid über dem konstruktiven „Knochengerüst“ des Kernes liegen. Der Künstler verwendet die Ornamentik als hybride Textur, „die nicht auf Gliederung oder eine abstrakte serielle Geometrie aus ist, sondern auf Selbstverschlingung. Sie speist sich aus dem Begehren eine Struktur zu erzeugen, die den Gegensatz zwischen schmuckhafter Applikation und zugrundeliegendem Körper aufhebt und damit den Körper selbst in einen in sich selbst verstrickten, instabilen Ornamentzusammenhang verwandelt. Damit steht die Haltung des Künstlers eher im Zusammenhang mit der kunstgeschichtlichen Figur des Grotesken.“[8]
Auf diese Weise ironisiert Hasslinger, der einmal Architekt werden wollte, das altgediente Machtsymbol des Turmes. Die starre Tektonik des männlich-phallischen Turmes wird gezielt konterkariert und dekonstruiert durch eine weiche, chaotisch-irreguläre Strukturgebung und die
bewegliche, textile Optik einer traditionell femininen Lebenswelt. Es ist der Sieg des weiblichen Netzstrumpfes über den statischen männlichen Manifestationswahn. Dehnung und Kontraktion stellen in der Welt der femininen Netze kein Problem dar, aber diese Welt ist nicht minder ambivalent. Denn die Welt der weiblich-weichen Masche ist bloße Hülle, schöner Schein, verspielte, arabeske Modenarrheit, erotisch aufgeladene Inszenierung ohne substantielles Innenleben – unterstrichen durch eine zuckerige, sahnig-leckere Farbigkeit, die zum Verzehr verleitet. Stephan Berg spricht denn auch zu Recht von „Texturen des Begehrens“, die diese Turmsäulen auf ihrer Außenhaut zur Schau stellen. Eine wuchernde Verführung der Sinnlichkeit, die sich selbstverliebt umkreist. „Ein Netz zu konstruieren, aus dem der Blick nicht mehr hinausfindet“ – so beschreibt Stephan Hasslinger seine künstlerische Absicht – ein Netz, das sinnliche Lockungen und Sehfallen für den Betrachter bereithält, und den Ekel ebenso wie die Anziehung modisch-erotischer Fetischisierung thematisiert.
[1] M. Révész-Alexander, Der Turm als Symbol und Erlebnis, Den Haag 1953, S. 59.
[2] „Dein Hals ist ein Turm aus Elfenbein. / Deine Augen sind wie die Teiche zu Heschbon / beim Tor von Bat-Rabbim. Deine Nase ist wie der Libanonturm, / der gegen Damaskus schaut“ Hohelied, 7,5.
[3] Claudia von Werlhof, Go West End, in: Der Tag an dem die Türme fielen, Symbolik und Bedeutung des Anschlags, hrsg. von Christine Stecher, München 2002, S. 274/275.
[4] Rüdiger Görner, Höher hinaus. Über Türme, eine literarische Motivgeschichte, Wiesbaden 2016, S. 18/19.
[5] M. Révész-Alexander, Der Turm als Symbol und Erlebnis, Den Haag 1953, S. 120/121.
[6] M. Révész-Alexander, Der Turm als Symbol und Erlebnis, Den Haag 1953, S. 20.
[7] Rüdiger Görner, ebd., S. 29.
[8] Stephan Berg, Selbstverschlingung, 2017, zitiert bei www.stephan-hasslinger.de/Texte-Werke-9.html.
Die Groteske in der traditionellen bildenden Kunst ist durch eine phantastische, verschlungene Ornamentik gekennzeichnet mit dem Zweck, zu erstaunen und zu befremden.
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