Stephan Berg
Selbstverschlingung
Die Linie
Die Linie, so sagt es Paul Klee, ist Gedanke, und der Gedanke ist das Medium zwischen Erde und Kosmos. Als Mittlerin zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt ist sie ein primum movens, „die erste bewegliche Tat“, und damit nicht nur schöpferisch, sondern ein Schöpfungsgleichnis. Auch für Stephan Hasslinger ist die Linie die Grundlage und der zentrale Antrieb für seine künstlerische Arbeit. Aber er verwendet sie in vielerlei Hinsicht anders, als wir es aus dem klassischen künstlerischen Umgang mit ihr gewohnt sind. Der erste gravierende Unterschied besteht darin dass Hasslingers Linie sich nicht aus der Zeichnung entwickelt, sondern aus einer körperlichen, plastischen Form. Damit wird aus dem Strich, der die Fläche teilt ein Linienkörper, der selbst zwischen Flächigkeit und Volumen oszilliert. Die Fläche ist nicht mehr die Existenzgrundlage für die Linie, die dieser ihr distinktives Potenzial einschreibt, sondern ein Phantom, das durch den mäandernden Linienkörper gleichermaßen evoziert, wie dementiert wird. Anders gesagt: Diese Volumen bildenden Linien finden keinen Halt in einer ihr zugrundeliegenden Fläche, sondern formen selbst ein haltloses, nur aus sich selbst bestehendes Geflecht.
Während die Linie auf dem Papier territorial funktioniert, weil sie alles, was sie bezeichnet im Akt der Bezeichnung zugleich ein- und ausschließt, beschreiben die Liniengeflechte in Stephan Hasslingers Keramikplastiken ausschließlich sich selbst. Indem sie nur sich selbst ein- bzw. ausgrenzen, heben sie den Begriff der Grenze auf, werden grenzenlos. Wenn es in dieser im grundsätzlichen Sinn flächenlosen Welt doch ab und an Flächen gibt, dann als systematisches Widerlager zu der voluminösen Linienstruktur. Als oft metallisch oder hautfarben schimmernde makellose Oberflächen sind sie das dialektische Gegenstück zu den Körper-Linien und verdeutlichen damit auch, wie sehr sie einer anderen Logik folgen: Eben nicht der einer beschreibbaren, glatten übersichtlichen Flächigkeit, sondern der einer in sich verschlungenen räumlich-körperlichen Labyrinthik.
Das Ornament und die Groteske
Die Zeiten, in denen man das Ornament als Verbrechen bezeichnen konnte oder es in den Bereich des folgenlosen Dekors und der Kunstgewerblichkeit abschieben konnte, sind lang vorbei. Die Vorstellung, die Geschichte der Kunst finde ihre Vollendung im vollkommen autonomen, von allen Referenzen befreiten abstrakten Kunstwerk, ist mittlerweile als Mythos einer dogmatischen Avantgarde-Moderne entlarvt. Ausstellungen wie Bice Curigers Birth of The Cool (1997) haben den lange verdrängten Einfluss des Surrealismus auf die amerikanische Abstraktion herausgearbeitet. Markus Brüderlins Schau über Ornament und Abstraktion (2001) machte deutlich, dass Ornamente eben nicht nur dekorativ, sondern auch semantisch aufgeladen sind. Und ebenso zeigte sie, dass sich die Geburt der Moderne und der Abstraktion auch aus dem Geist der Arabeske herleiten lässt. Hasslingers Plastiken wissen um diesen Paradigmenwechsel und spielen gleichzeitig damit. Das zeigt sich einerseits im offensiven Einsatz ornamental-dekorativer Gestaltungselemente, die nicht nur additiv dem Werk hinzugefügt werden, sondern es geradezu konstituieren. Aber auch in der Entscheidung sich im Medium der Keramik zu bewegen, und damit in einem Feld, das ungeachtet seiner langen künstlerischen Traditionslinie von Picasso bis Norbert Prangenberg immer noch gerne mit der Sphäre des Kunsthandwerklichen assoziiert wird. Auch wenn heute kein Kampf mehr gegen das Moderne-Phantasma absoluter Purifikation geführt werden muss, steckt doch ganz sicher hinter dieser Entscheidung eine Haltung, die sowohl medial wie inhaltlich eher an der Abweichung von der Norm, an Verwirrung und Komplexitätsmaximierung als an Eindeutigkeit und systematischer Klarheit interessiert ist.
Das betrifft auch Hasslingers Umgang mit dem Motiv des Ornaments, das er nicht seiner ursprünglichen Funktion gemäß als parataktische, schmuckhafte Gliederung von Gegenständen in Form von Bändern, Reihen, Leisten oder Fries-Elementen einsetzt, sondern als hybride, wuchernde räumliche Textur. Diese Ornamentik ist nicht auf Gliederung oder eine abstrakte serielle Geometrie aus, sondern auf Selbstverschlingung. Sie speist sich aus dem Begehren eine Struktur zu erzeugen, die den Gegensatz zwischen schmuckhafter Applikation und zugrundliegendem Körper aufhebt und damit den Körper selbst in einen in sich selbst verstrickten, instabilen Ornamentzusammenhang verwandelt. Damit steht die Haltung des Künstlers eher im Zusammenhang mit der kunstgeschichtlichen Figur des Grotesken. Dieser erstmals im Anfang des 16. Jahrhunderts nachgewiesene Begriff bezog sich ursprünglich auf die mit einer wilden ornamentalen Mischung aus u.a. pflanzlichen, architektonischen und Fabelwesen geschmückten Säle des römischen Domus Aurea, dem goldenen Palast von Kaiser Nero, dessen verschüttete, also vermeintlich unterirdische Gemächer (daher der aus grotta, Höhle hergeleitete Terminus des Grottesken) im späten 15. Jahrhundert wieder entdeckt wurden.
Seitdem meint das Groteske in erster Linie eine Form phantastischer, verschlungener Ornamentik mit einem Hang zur verzerrenden, übertreibenden Darstellung. Innerhalb der Literatur wurde die normabweichende ästhetische Hybrid-Struktur dieser Ornamentik dann zum Ausgangspunkt für eine Theorie des Grotesken, die darin zum einen ein Stilmittel der Ironie sieht, das vor allem Gefühle des Staunens und des Befremdens hervorrufen will, und weitergehend das Groteske aber auch als Etablierung einer Gegenwelt begreift, in der sich scheinbar gesetzlos das Heterogenste miteinander verbindet.
Eben in diesen Kontext lässt sich Hasslingers Verfahren durchaus einordnen. Mit seinen Formfindungen, die ihre Herkunft aus dem Bereich des Textilen und der Modewelt meist erahnen lassen aber doch soweit verformen und aufweichen, dass sie zu fremden, befremdenden Oberflächenobjekten werden, transformiert er die Dinge in den Bereich einer Phantastik, die letztlich auch mit surrealen Kategorien nur noch wenig zu tun hat. Während es dort strukturell um die zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch geht (Lautréamont), also um den Zusammenprall existierender aber miteinander unvereinbarer Realitäten, arbeitet Hasslinger an der ornamentalen Transformation des Existierenden zu einer Wirklichkeit eigener Ordnung.
Netz und Gitter
Als planes, zweidimensionales Raster ist das Gitter die Beschwörung und zugleich die Manifestation einer regelmäßigen Ordnungsstruktur. Mr. Neville, die Figur des Zeichners in Peter Greenaways epochalem Film Der Kontrakt des Zeichners (1982) benutzt als radikaler Naturalist ein vor seiner Staffelei angebrachtes Gitteraster, um bei seinen Plein Air-Zeichnungen eines südenglischen Landsitzes die Übertragung der Realität auf das Bild in absoluter Exaktheit ausführen zu können. Gitterstrukturen liegen als Planquadrate Stadtplänen zugrunde. Das Gitterraster bildet für den Konstruktivismus die Grundlage für eine mathematisch-objektivierbare Bildgestaltung.
Das Gitter ist die Matrix für die Verwandlung der Welt in eine beherrschbare Fläche, in der jedes Rasterquadrat dieselbe Bedeutung und Wertigkeit besitzt, und dadurch alles, was sich in ihm befindet seinem Diktat unterwirft. Das Netz ist die Projektion des Rasters in den Raum in ein Volumen hinein. Aber es wird zugleich in seiner Funktion und Bedeutung durch dieses Räumlich-Werden verwandelt. Im Gitter fängt sich das Heterogene und bleibt als Unterschiedliches nebeneinander bestehen, während es durch das Netz als Gemeinsames umfangen wird. Indem das Netz all das Disparate sammelt, verändert es sich in seiner eigenen Struktur. Seine Maschen ziehen sich unter der Belastung an manchen Stellen zusammen, und werden an anderen Stellen ganz weit. Die Regelmäßigkeit der geknüpften Rauten löst sich auf zugunsten von Dehnungen, Verzerrungen und Kontraktionen. Das Gitter ist starr, das Netz atmet.
Insofern ist es natürlich kein Zufall, dass Stephan Hasslingers Werk voll von netzartigen Strukturen ist. 2005 entsteht Paris-Hollywood, das eine mit der Öffnung nach unten stehende blau glasierte Netzstruktur zeigt, durch deren Maschen wir auf ein leeres Inneres schauen. 2009 variiert Hasslinger diese Formfindung mit einem roten Rautennetz als Wandarbeit. Fay, aus dem Jahre 2005 kombiniert eine wahlweise an Muskelfasern, gebündelte, gekochte Spaghetti und lose verknüpfte kaskadenartig fallende weiße Wollfäden erinnernde Oberflächenstruktur mit einer grünen Netzhaut. Und auch der als Auftragsarbeit entstandene Altar für die Remigiuskirche in Merdingen am Tuniberg (2009) operiert mit einer transparenten, filigran und beweglich wirkenden Netzstruktur, die mit ihren nur punktuellen Berührungen des Bodens jede Vorstellung einer soliden Verankerung im brutum faktum der Realität sanft lächelnd hintertreibt.
Texturen des Begehrens
Im Kern geht es in Hasslingers Werk immer um das Begehren zu berühren und berührt zu werden. Schon in der Formung des weichen Tons zu sich dehnenden, streckenden, in sich verschlungenen fingerartigen Würstchen steckt eine erotische Komponente. Und die Glasur der gebrannten Keramiken lädt die körperlichen Oberflächentexturen mit einem sinnlichen Glanz auf, der das Bedürfnis sie haptisch zu erfahren, noch einmal steigert. Dazu passt, dass die motivischen Anregungen für die Arbeiten in der Regel aus dem Feld der Mode stammen. Kleidermuster, Schuhe, Handtaschen, Gürtel, Stoffe, Schmuck liefern das Reservoir für die Formfindungen, und damit ein Arsenal der immer auch sexuell aufgeladenen Körperinszenierung. Die Stoffe, die im wirklichen Leben den Körper verhüllen und ihn gleichzeitig möglichst vorteilhaft zur Geltung bringen, mutieren bei diesem Künstler zu hybriden, aus der wilden Kreuzung unterschiedlichster Stoffmuster entstandenen Ornamentkörpern, die sich selbst ausstellen. Der Modekontext ist dabei wie Hasslinger selbst sagt nicht mehr als der „Zünder“ auf dem Weg zu Artefakten, die mit ihren schimmernden metallischen Oberflächen und einem labyrinthisch-lustvollen Strick-Barock die perfekte Balance zwischen dem Gesehenen und dem Ungesehenen, zwischen der distinkten Form und ihrer nie ganz vollzogenen Auflösung in die Formlosigkeit suchen.
Hülle und Körper
Alle Arbeiten Stephan Hasslingers beschäftigen sich damit, Volumina zu bilden, in denen gleichzeitig das Moment der Schwere und körperlichen Dichte partiell aufgehoben ist. Der Künstler erreicht diese paradoxe Balance durch seinen spezifischen Umgang mit dem hoch schamottierten Ton, den er für seine Werke benutzt. Für alle größeren Arbeiten entsteht zunächst ein konstruktives Ton-Gerüst, das die Grundlage bildet für die Tonarabesken, die der Künstler in einem zweiten Schritt darauf anbringt. Medial gesehen verfolgt Hasslinger damit einen Sonderweg innerhalb plastischer Gestaltung. Das Werk entsteht hier nicht als additive Materialschichtung aus einem festen Kern heraus, sondern als Konstruktion einer äußeren Haut um ein grundsätzlich leeres Inneres herum. Dieses einem Skelettbau nicht unähnliche Vorgehen führt also zu dem verblüffenden Ergebnis, dass all die Körper, die aus diesen Ornamentakkumulationen entstehen, in Wahrheit nur Hüllen sind, und diese Hüllen ihrerseits nichts in ihrem Inneren bemänteln, weil sie selbst schon der Inhalt sind, den sie eigentlich scheinbar nur dekorativ umkleiden.
Am eindrucksvollsten verdeutlichen das die großen, über zwei Meter hohen säulenartigen Keramiken, die seit Ende der 1990er Jahre eine zentrale Rolle für das Werk spielen. Ihre aus einzelnen, übereinander gestapelten Modulen gebildete Faktur verweist darauf, dass sie sich zumindest gedanklich endlos fortsetzen ließen, und ruft über dieses serielle Moment auch die Erinnerung an Brancusis endlose Säule auf. Gleichzeitig konterkariert Hasslinger die klare Geometrie und die strikte Vertikalität Brancusis durch biomorphe Oberflächengestaltung und eine zumindest optisch ziemlich aus dem Lot geratene Vertikalausrichtung. Jedes der Module dehnt und streckt sich innerhalb seiner ovalen Grundform in eine etwas andere Richtung, um sich am Ende doch in einer prekären Balance auszutarieren.
Ähnlich ambivalent, wie diese Säulen ihr Verhältnis zur eigenen Standfestigkeit inszenieren, umkreisen sie auch ihre eigene Körperlichkeit: Der hohe ornamentale Aufwand vermittelt zusammen mit der farbigen Glasur beziehungsweise gesprayten Lackierung den Eindruck einer körperlichen Dichte und Massivität, die andererseits dadurch relativiert wird, dass das leere Innere jederzeit durch die ornamentalen Schlaufen hindurch präsent bleibt. Als Hohlkörper sind diese Säulen in erster Linie Behälter für sich selbst und für ihre potenziell unendlich wuchernde Ornamentik. Dieses ständige Umkreisen eines nur mehr aus Hülle bestehenden Körpers wird in einigen kleineren Wandarbeiten bis zu einem konsequenten Endpunkt geführt. In SMX (2008) und Korsettwickel (2009) beispielsweise quetscht der Künstler die noch feuchten und mit Ton-Bändern umwickelten ornamentalen Schlingen und Schlaufen so zusammen, bis er ihnen ihre innere Leere vollständig ausgetrieben hat, und diese dadurch als eigentlichen Wesenskern der Arbeiten erst recht spürbar macht.
Pars pro Toto:
In diesem Werk ist jedes Stück ein Fragment, ein Teil von etwas, das nicht in Gänze sichtbar ist, sich fortsetzen oder erweitern ließe, und beansprucht als Fragment dennoch auch eine Ganzheit, ein Für-sich-Stehen. Man begreift die merkwürdige Doppelgesichtigkeit dieser Arbeiten ganz gut, wenn man vor einer dieser Wände steht, an denen der Künstler seine kleineren Arbeiten aufhängt, die durch diesen Wandbezug und ihre zum Teil intensive Farbigkeit auch bewusste Referenzen zur Malerei aufrufen. Die einzelnen Teile wölben sich aus der Wand heraus, als steckte ein Stück von ihnen noch in der Wand fest, sie agieren untereinander, als wären sie durch ein geheimes Myzel miteinander verbunden, und beharren doch gleichermaßen in ihrer oft käferartig in sich geschlossenen und äußerlich kompakten Anmutung auf einer gewissen Selbstbezüglichkeit. Die in fast allen Arbeiten beobachtbare Kombination aus unterschiedlichen, ineinander verhakten Ornamentmustern, glatten Flächen und glänzender Farbigkeit weist sie als generisch zusammengehörig, als Teile eines gemeinsamen Stammes aus. Und ebenso steht jedes einzelne Teil als Stellvertreter auch für das Ganze, das sich seinerseits wieder nur als Fülle einzelner Fragmente und Teile zeigt.
Innerhalb des mythischen Denkens gibt es die Vorstellung, dass alle Wesen, Dinge und Phänomene durch einen allumfassenden magischen Zusammenhang miteinander verbunden sind, und damit auch jedes einzelne Teil, jedes Fragment am Ganzen partizipiert. Das wilde Denken, das Claude Levi-Strauss daraus destilliert hat, arbeitet in gewisser Weise auch in dem ornamentalen Keramikkosmos Stephan Hasslingers, in dem alles mit allem verbunden ist und die konkrete Realität den notwendigen Ansatzpunkt bietet, um von dort aus zur „unbewussten Erfassung der Wahrheit“ des Ungesehenen zu gelangen.
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